„Die Zeit ist der Stoff, aus dem wir gemacht sind.“
- von Jorge Luis Borges
Es gibt eine Illusion, an die wir uns alle klammern: die Vorstellung, dass die Zeit eine gerade Linie ist, dass sie einen Anfang und ein Ende hat, dass sie nur in eine Richtung fließt. Doch die Musik lehrt uns das Gegenteil. Jeder Klang ist eine Wiederkehr und eine Wiedergeburt, jede Melodie trägt ein Echo von etwas, das bereits gewesen ist, jede Improvisation projiziert die Zukunft in einen Augenblick, der sich nie wiederholen wird. Musik löst die Zeit auf, dehnt sie aus, hebt sie auf, krümmt sie. Und diese Saison ist eine Reise in diese fließende Dimension, in der sich Vergangenheit und Gegenwart vermischen, musikalisches Erbe sich verwandelt und Traditionen sich in neuen Formen neu erfinden, ohne jemals den Dialog miteinander zu beenden.
Der Beginn der Saison ist kein fester Punkt, sondern eine sich ausbreitende Welle. Avishai Cohen und die Göteborgs Symfoniker eröffnen diese Entdeckungsreise mit einem außergewöhnlichen Triptychon: ein Jazztrio, das den reinsten Sinn der Improvisation widerspiegelt, ein Sinfonieorchester, das die spätromantische Tradition Nordeuropas verkörpert, und dann ihr Zusammentreffen, eine Fusion, die alle Grenzen zwischen den Genres, zwischen Geschriebenem und Ungeschriebenem, zwischen Struktur und Freiheit auflöst. Es ist eine Öffnung, die keine Richtung vorgibt, sondern alle Möglichkeiten offen lässt.
So entfaltet sich die Saison wie ein Netz sich kreuzender Fäden, das Korrespondenzen und Kontrapunkte zwischen verschiedenen Epochen, Stilen und Empfindungen schafft. Klassische Musik ist ihrem Wesen nach nie statisch, und daran erinnern uns Interpreten wie András Schiff, der das Orchestra of the Age of Enlightenment auf die Bühne des LAC bringt, um in die Welt von Haydn einzutauchen, zwischen Virtuosität und Erfindung, Strenge und kreativer Kühnheit. Oder wie Philippe Herreweghe, der uns auf eine Reise von Beethovens Eroica bis zu Cherubinis Requiem führt und dabei die Spannung zwischen Revolution und Erinnerung, zwischen Neuem und Altem, die die Geschichte der europäischen Musik geprägt hat, herausstellt.
Einer der Höhepunkte ist das Konzert des jungen und charismatischen japanischen Pianisten Hayato Sumino, der unter dem Pseudonym „Cateen“ bekannt ist. Diese Veranstaltung verbindet musikalische Tiefe mit zeitgenössischer Energie. Das Programm verbindet Klassiker wie Chopin und Bach mit innovativen Originalkompositionen von Cateen selbst, wodurch ein faszinierender Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart entsteht. Höhepunkt des Konzerts wird die außergewöhnliche Version von Ravels Boléro sein, die gleichzeitig auf zwei Klavieren gespielt wird - ein einzigartiges klangliches und visuelles Erlebnis, das bereits Millionen von Online-Zuschauern verzaubert hat.
Und dann gibt es diese Momente, in denen Musik zu einer Reise wird, zu einer Überquerung von Territorien und Kulturen. Das Chineke! Orchestra bringt die Stimmen der afroamerikanischen symphonischen Tradition zu Gehör und gibt den Komponisten, die aussergewöhnliche Werke geschrieben haben, die aber von der Geschichte an den Rand gedrängt wurden, den richtigen Platz zurück. Die Camerata Bern schlägt eine Brücke zwischen den Epochen mit einem Programm, das Hildegard von Bingen und Benjamin Britten in einem Dialog zwischen mittelalterlichem Kirchengesang und orchestraler Moderne zusammenführt. Das Manchester Collective mischt schottischen Folk, Jazz und zeitgenössische Musik und lässt dabei die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Notation, Improvisation und Struktur verschwimmen.
Der Jazz ist in seiner authentischsten Form die Sprache, die das Konzept der Zeit in der Musik am meisten erforscht hat und es in jeder Epoche neu definiert. Diese Saison zelebriert seine Vitalität auf unterschiedliche Weise: Sollima und Fresu mit ihrer Alchemie aus Cello und Trompete durchqueren sie in einer Synthese, die das Barock und das Zeitgenössische, das Schriftliche und das Freie berührt. Avishai Cohen führt es in die Welt der Sinfonie, während Ledisi und das Metropole Orkest es mit der Stimme von Nina Simone verweben und die Seiten eines historischen Konzerts mit neuen Arrangements umschreiben.
Die menschliche Stimme ist in der Tat das Element, das die Zeit am meisten auflöst, das erste Musikinstrument, das älteste und zugleich das erneuerungsfähigste. Das Konzert von Costanza Alegiani und Peppe Servillo, das den Liedern von Kurt Weill und Bertolt Brecht gewidmet ist, erinnert uns eindringlich an diese Tatsache: Kabarett, Musiktheater, Jazz und Poesie vereinen sich zu einer einzigen Geschichte, die Epochen und Kontinente umspannt. Kurtág, der große Meister der musikalischen Miniatur, zieht sich wie ein roter Faden durch die Saison. Das Konzert „Kurtág 100“, das genau auf den hundertsten Jahrestag seiner Geburt fällt, ist eine Gelegenheit, seine poetische Welt zu erkunden, die zwischen Klang und Stille, Erinnerung und Vision schwebt. Aber auch seine essenzielle und kraftvolle Sprache taucht im Programm des Manchester Collective auf und zeigt, wie sein Einfluss die Gegenwart weiterhin prägt.
In dieser Saison gibt es Konzerte, die Geschichten erzählen, aber auch Projekte, die über Musik im engeren Sinne hinausgehen und die Beziehung zwischen Klang, Bild und Wort erforschen. Rodari Connection bringt eine Erfahrung auf die Bühne, bei der sich die Erzählungen von Fables on the Phone mit elektronischen und Videoexperimenten vermischen und ein Spiel zwischen Realität und Fantasie entsteht. WANDERER verwandelt mit seiner künstlerischen Residenz im LAC das Theater in eine klangliche und visuelle Reise und überwindet die Grenzen zwischen Performance und Installation. Andrea Molinos La radio vuota, eine Koproduktion mit 900 presente, dem Conservatorio della Svizzera Italiana und RSI, ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Musik Geschichten jenseits des traditionellen Konzerts erzählen kann, indem sie eine immersive Erfahrung schafft, die unsere Beziehung zu Klang und der Welt um uns herum hinterfragt.
Schließlich gibt es noch zwei Veranstaltungen, die das Herzstück dieser Saison zu unterstreichen scheinen: die Vorführung von Psycho, zu der das OSI den Soundtrack live spielt, und Sinfonia di una grande città, bei der die Berliner DJs Gebrüder Teichmann Live-Musik zu Walter Ruttmanns legendärem Stummfilm Sinfonia di una grande città (1927) auflegen und dabei Musik von Berliner Komponisten aus verschiedenen Epochen neu abmischen. In beiden Fällen übernimmt die Musik die Kontrolle über die filmische Zeit, verwandelt sie, schreibt sie um. Wir sehen die gleichen Bilder, aber die Erfahrung ist immer neu, immer anders.
Es gibt auch Gelegenheiten, bei denen die historische Zeit zur lebendigen Materie der Musik wird. Das Konzert „Wir waren der Klang“ anlässlich des Gedenktags ist eine Hommage an die in die Konzentrationslager deportierten Musikerinnen, die die Musik zu einem Akt des Widerstands machten. Die Geschichte ist auch in Balagans Programm verwoben, eine Reise durch jüdische, balkanische und zeitgenössische Klänge, die den wandernden Pfaden von Migrantentraditionen nachspürt.
Deshalb ist diese Saison kein bloßes Konzertprogramm, sondern eine echte Zeiterfahrung. Eine Reise, die uns zeigt, dass Musik nie ein Objekt der Vergangenheit ist, sondern eine Energie, die sich ständig verändert. Borges schrieb, die Zeit sei ein Fluss, ein Tiger, ein Feuer. Die Musik ist all dies, aber sie ist auch das, was uns erlaubt, sie zu durchqueren, ohne von ihr überwältigt zu werden.
Lassen Sie sich mitreißen. Jeder Klang ist ein neuer Anfang.
Andrea Amarante
Künstlerische Leiterin Musik