Louisa Gagliardi
Many Moons
16.02–20.07.2025
Kuratiert von
Francesca Benini
Die Ausstellung
Many Moons ist die erste grosse institutionelle Ausstellung in der Schweiz, die Louisa Gagliardi (Sion, 1989) gewidmet ist. Der Aufbau der Schau scheint zunächst der Logik einer traditionellen Gemäldeausstellung zu folgen, doch sobald man den Rundgang antritt, wird man mit Überraschungen konfrontiert. Entlang des Weges öffnen sich an den Aussenwänden neue, intimere Bereiche, wo grosse ortsspezifische Gemäldezyklen atmosphärische Bilderräume schaffen. Auch die Technik überrascht: Louisa Gagliardi malt nicht traditionell, sie erschafft ihre Bilder am Computer und verwendet die Maus statt des Pinsels. Ihre ästhetische Bandbreite reicht dabei von der Kunstgeschichte bis zur Popkultur. Die digital erzeugten Bilder werden auf Vinyl gedruckt, auf Keilrahmen gespannt und anschliessend mit Lack, Gel oder Glitter bearbeitet. Diese letzte, von Hand ausgeführte Geste ist neben den visuellen Referenzen, der Strukturierung des Raumes und der Wahl der Motive eines der Elemente, die Gagliardis Arbeiten im Genre der Malerei verankern und den Betrachter spielerisch verwirren.
Die Motive erscheinen dabei ebenso doppelbödig und geheimnisvoll wie die Technik: Szenen, die von Stille, traumhaften Atmosphären und mysteriösen Elementen durchzogen sind, rücken Gagliardis Arbeiten in die Nähe der Malerpoetik des vergangenen Jahrhunderts, der Pittura metafisica, des Surrealismus oder des Magischen Realismus. Die Künstlerin macht sich gleichzeitig zum Sprachrohr des tiefgreifenden Wandels, der das Post-Internet-Zeitalter kennzeichnet. Heute hat sich unsere Wahrnehmung von uns selbst und von unserem Abbild radikal gewandelt, während die Unterscheidung zwischen dem, was real ist, und dem, was künstlich geschaffen wurde, immer unschärfer wird. Durch den Einsatz von Trompe-l’oeil, Spiegelungen und ungewöhnlichen Blickwinkeln regt Louisa Gagliardi das Publikum dazu an, hinter die gemalte Oberfläche zu schauen. Hinter ihren imaginären Welten verbirgt sich oft eine Reflexion über die Komplexität des modernen Lebens; mit einem originellen Blick erkundet die Künstlerin Themen wie Identität, soziale Veränderungen und die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt.
Natur, Stadt und häusliches Umfeld
Werke wie Night Caps (2022), Swamped (2024) oder Jackpot (2024) beschwören dystopische Visionen herauf, in denen äussere und innere Landschaften verschmelzen. Hier sind es die sich ausbreitenden Pflanzen und Tiere, welche die menschlichen Aktivitäten überlagern und die von Menschen geschaffenen Szenarien in eine Version verwandeln, in der die Natur die Oberhand gewinnt. In anderen Arbeiten, wie jenen an der rechten Wand (vom Eingang aus gesehen), dominiert dagegen der urbane Kontext. In die retrofuturistisch anmutende Szenen dringt die Natur durch scheinbar zufällige Details ein: Die Meisen in Birds of a Feather (2023), die auf dem Boden verstreuten Pfirsiche in Climbing (2024) oder die Dornenranken zwischen den Kacheln in Quiet Exit (2023) sind störende Elemente, die beim Betrachter ein unbehagliches Gefühl hervorrufen. Die Beziehung zur Natur ist ein immer wiederkehrendes Thema, mit dem sich die Künstlerin auseinandersetzt, ohne dabei eine moralisierende, wertende oder erklärende Haltung einzunehmen. Vielmehr erweckt sie beim Betrachter das Gefühl eines bereits vorhandenen Gedankens, eines déjà-vu, das möglicherweise mit einer inneren Erfahrung verbunden ist.
Auch das häusliche Umfeld interessiert die Künstlerin als idealer Kontext, um Vertrautes mit Fremdem zu kombinieren und ein Gefühl des Unheimlichen zu erzeugen. Das Faszinierende bricht aus dem Alltäglichen hervor, manchmal kaum wahrnehmbar wie in den unpassenden Spiegelungen von Cascade (2023), manchmal dominant wie in den Traumszenen von Chaperons (2023) und Round-about (2023). In der letztgenannten Arbeit bewegt sich eine Gruppe von Figuren um einen auf dem Kopf stehenden Kronleuchter. Sie werfen lange, zitternde Schatten, welche die Eintönigkeit des weissen Raumes unterbrechen. Die Schatten, die ein Eigenleben zu führen scheinen, werden durch breite, sichtbare Pinselstriche hervorgehoben, die ihnen Bewegung und Plastizität verleihen und das Zittern der Kerzenflammen zu verstärken scheinen.
Gesichter und Körper
Die meisten Werke von Louisa Gagliardi sind von Figuren bevölkert; einige scheinen versteckte Porträts zu sein, andere haben anonyme Gesichter mit blau-grünem Teint, wie Avatare, wieder andere sind im Begriff zu verschwinden. Es ist nicht so sehr die Klarheit, welche die Künstlerin interessiert, sondern die Leere: Die Figuren werden zu Platzhaltern, in die sich der Betrachter hineinprojizieren kann. Unabhängig von ihrer Erscheinung verbindet alle Porträtierten ein Gefühl der Unnahbarkeit, selbst in Gruppendarstellungen wirken sie isoliert. Etwa in der Arbeit Green Room (2023): sieben nebeneinander sitzende Figuren scheinen keine Beziehung zueinander aufbauen zu können. Diese ungewöhnliche Distanz wird durch die Anwesenheit von zwei Hunden verstärkt, die im Hintergrund ausserhalb des Raumes zu sehen sind. Diese optische Verbindung erzeugt eine Spannung und Bewegung, die durch die an ihnen zerrenden Hundeleinen noch verstärkt wird. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Tiere nicht draussen sind, sondern auf drei Leinwände gemalt sind, die Fenster simulieren. Die Illusion einer alternativen, dialogfähigen Realität löst sich auf in einem Spiel von Schein und Sein.
Die Aufmerksamkeit aufs Detail
Bei Louisa Gagliardi bleibt nichts dem Zufall überlassen. Die Liebe zum Detail ist eine der faszinierendsten Eigenschaften ihrer Bilder und verleitet uns dazu, genauer hinzusehen. Nach einem ersten Eindruck und vielleicht einem Gefühl der Verwirrung kommen nach und nach minutiös dargestellte Details zum Vorschein, die auf den ersten Blick verborgen blieben. Während das Auge von einem Punkt zum nächsten wandert, scheinen sich neue Ebenen aufzutun, und die Wahrnehmung des gemalten Raumes verändert sich. Was zunächst als eine einzige Fläche erschien, entpuppt sich als eine fein ausgearbeitete Schichtung – ein Hinweis auf die Strukturebenen der Software, welche die Künstlerin verwendet.
Das ständige Hinein- und Herauszoomen des Betrachters korrespondiert mit der Art und Weise, wie die Künstlerin die Bildschirmansicht vergrössert und verkleinert, um eine möglichst lückenlose Verfeinerung zu erreichen. Diese grenzenlose Retusche, die sich computergestützter Mittel bedient, ist eng verwandt mit der manischen Art und Weise, wie wir im alltäglichen Metaversum unser Bild kontrollieren und pflegen. Ebenso erinnert der voyeuristische Reiz, den Louisa Gagliardis Arbeiten auslösen können, an den Wunsch, die Intimität anderer auszuspionieren, dem die neuen sozialen Gewohnheiten im Internet so widerstandslos entgegenkommen.
Curtain Calls
Zwei nahezu identische Sitzfiguren an der Schwelle des Raumes beobachten jede eintretende Person. Das Gefühl, überwacht zu werden, intensiviert die Wahrnehmung des Übergangs. Sobald man den Raum betritt, steht man vor einem monumentalen Gemäldezyklus, der an die Renaissancefresken erinnert, die bereits im historischen Kontext ganze Räume in immersive Werke verwandeln konnten. Louisa Gagliardi beherrscht die Gesetze der Perspektive perfekt. In einem von Wiederholungen und Unterbrechungen geprägten Rhythmus schafft sie einen illusionären Raum, der sich jenseits des realen erstreckt. Im Hintergrund öffnen sich gestaffelte Räume wie Fenster zum Unbewussten; sie scheinen Breschen ins Reich der Phantasie zu schlagen und geben dem Betrachter das Gefühl, in die Oberfläche des Gemäldes eintauchen zu können. Die Künstlerin spielt nicht nur mit der Illusion eines räumlichen Kontinuums der Umgebung in das Bild hinein, sondern auch umgekehrt scheinen Bildraum und gemalte Welt in den Ausstellungsraum einzudringen.
Auch die Sessel House Sitting (2025), die den Besuchern zur Verfügung stehen, sind Teil des Kunstwerks. Louisa Gagliardi hat das berühmte Modell LC2 des Architekten Le Corbusier aus dem Jahr 1928 nach ihren Vorstellungen umgestaltet. Damit hat sie der Design-Ikone eine neue Bedeutung verliehen, die klar wird, wenn man sie in Beziehung zu den Bildern setzt. Das Objekt ist sowohl in den Werken als auch im physischen Raum vor dem Besucher zu sehen, wo es mit auf Kissen gedruckten Trompe-l’oeil-Effekten die Grenze zwischen den Dimensionen weiter verwischt. Die Ambiguität zwischen Realität und Repräsentation ist ein zentrales Thema der künstlerischen Forschung von Louisa Gagliardi. Der Akt, durch die Malerei eine alternative Welt zu schaffen, in die man visuell eintreten kann, verweist direkt auf die Fähigkeit der digitalen Medien, den Lebensraum zu erweitern und eine parallele Realität zu schaffen, die nicht nur imaginär bewohnt werden kann.
Streaming
Sobald man den Raum betritt, wird man von Blau- und Grüntönen eingehüllt, die die Umgebung radikal verändern. Zwei riesige schlafende Figuren dominieren den Raum. Die virtuose perspektivische Verkürzung ihrer Körper und der Faltenwurf der sie verhüllenden Tücher erinnern an berühmte historische Vorbilder. Bezüge zur Kunst des Mittelalters und der Renaissance sind in den Werken von Louisa Gagliardi nicht selten und oft schon in der Perspektive und im Bildaufbau zu erkennen. In diesem Fall spielt die Künstlerin mit der Feierlichkeit sakraler Kunst und setzt den Betrachter gleichzeitig einer Szene von grosser Intimität aus: Die beiden bewusstlosen Körper, die durch ihre Grösse beeindrucken, wirken verletzlich. Man hat das Gefühl, in eine private Sphäre einzudringen. Der Schlaf ist der einzige Moment der wahren Hingabe, in dem wir weder uns selbst noch die Art und Weise, wie wir von anderen gesehen werden, kontrollieren können, ganz im Gegensatz zu unserer Präsenz im Internet, wo wir unsere Erscheinung ständig verwalten, verändern und dem Bild anzupassen versuchen, das wir von uns vermitteln wollen.
Der unscharfe Hintergrund und die ätherischen Töne versetzen die Figuren in eine Dimension zwischen Traum und Wirklichkeit; selbst die Ebene, auf der sie liegen, scheint sich in Wasserströme aufzulösen. Auf der Oberfläche der Werke sind eine Reihe von Elementen zu sehen, die wie eingeritzt an die Inschriften und Kratzzeichnungen erinnern, mit denen seit der Antike Fresken und Gebäudewände verunstaltet wurden. Diese rudimentären Standbilder dringen in die entrückte Sphäre ein und schweben über den Körpern wie Traumfragmente an der Schwelle zum Erwachen. Im Kontrast zur Plastizität der gemalten Figuren, die durch den Faltenwurf noch verstärkt wird, stehen Skulpturen, die durch ein verwirrendes Spiel mit ihrer Dimensionalität irritieren: Aus gigantischen Armbanduhren zusammengesetzte Scheiben stehen wie ausgeschnittene Gemälde im Raum und inszenieren ein höchst privates Objekt – die Armbanduhr. Ein Objekt, das man alsletztes vor dem Schlafengehen auf den Nachttisch legt, emotional aufgeladen und oft durch Gravuren personalisiert, ein klares Identitätssymbol, ein Beweis für die Einzigartigkeit des Trägers. Die flachen Skulpturen regen zum Nachdenken darüber an, wie im Zeitalter der Digitalisierung manche Gegenstände nur noch durch ihre physische Präsenz Bedeutung beanspruchen können.
Der Katalog
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, der die Werke von Louisa Gagliardi in einen Dialog mit literarischen Texten stellt. In Zusammenarbeit mit der Künstlerin hat das MASI Lugano drei junge Autorinnen und Autoren eingeladen, sich mit ihrem Werk auseinanderzusetzen und einen bisher unveröffentlichten Beitrag zu verfassen. Die Erzählungen von Noëmi Lerch und Sara Catella und die Gedichte von Micah Schippa-Wildfong wechseln sich mit Werkabbildungen ab. So entsteht ein interdisziplinäres Buch, das dem Leser eine Interpretation des Zeitgeistes bietet, eine visuelle und literarische Landschaft, die man entdecken und mit der man sich identifizieren kann.